Blicken wir einmal zum Ende des Mittelalters zurück: Amerika war gerade entdeckt worden. Luther hatte die Reformation in Gang gesetzt. Der Buchdruck war soeben erfunden, und noch gab es Hexenverbrennungen. Die Erfindung der Dampfmaschine lag noch zweihundert Jahre in der Zukunft, und mit ihr die Industrialisierung. Menschen lebten überwiegend in Dörfern. Die damaligen Städte waren im Vergleich zu den heutigen Metropolen winzig. Befestigte Straßen waren die Ausnahme. Von der heutigen Wissenschaft waren noch nicht einmal die Grundzüge bekannt. Newton, Pascal, Watt und Kant waren noch nicht geboren.
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Gerade das zwanzigste Jahrhundert hat eine ständige Beschleunigung der technologischen Entwicklung mit sich gebracht. Selbst wenn wir uns entgegen allen Anzeichen nicht so progressiv weiterentwickeln sollten wie in den letzten einhundert Jahren, werden wir uns in fünfhundert Jahren sehr stark verändert haben. Wie wird die Welt dann aussehen?
Stellt man sich diese Frage, so bemerkt man, dass man meist kaum über die nächsten zehn Jahre hinaus denkt. Viele planen für noch kürzere Zeiträume, und das längste, was in der persönlichen Planung vorkommt, ist meist ein Zeitraum bis zur Rückzahlung eines Hausbaudarlehens oder das Ende des eigenen Lebens. Es erscheint uns ungewohnt, weiter zu denken. Das ist vollkommen natürlich. Im Leben im Urzustand hatte es keinen Sinn, sich Sorgen um die Zeit nach dem eigenen Tod zu machen, und das praktizieren wir heute noch. Erst die Entwicklung von Kultur, Besitz und Macht hat längerfristige Überlegungen sinnvoll gemacht. Was vererbe ich wem? Was kann ich an meine Kinder weitergeben? Kann ich der Nachwelt etwas Geistiges hinterlassen oder mein Andenken über meinen Tod hinaus erhalten? Kann das, was wir jetzt tun, später zu Katastrophen führen?
Das Nachsinnen darüber, was in fünfhundert Jahren sein könnte, führt auch zu der Frage, was uns heute stört und was dann hoffentlich nicht mehr existieren wird:
- Werden wir noch so leben, arbeiten, wohnen, Beziehungen und Familien haben wie heute?
- Welche Technologien werden verschwinden, welche werden entstehen?
- Werden wir noch genauso unbekümmert und intensiv Ressourcen abbauen?
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- Wie und wie viel werden wir uns kleiden?
- Wird Sex noch immer etwas teilweise Tabuisiertes sein, das niemand sehen soll, obwohl es ein völlig natürlicher Vorgang ist? Werden wir vielleicht Sexualität feiern, so wie wir Essen, Musik, Tanz, Sport und andere Dinge heute schon feiern?
- Werden Drogen wie Ecstasy, Speed und Kokain immer noch verboten sein und andere wie Nikotin und Alkohol erlaubt?
- Welchen Platz werden Tier- und Umweltschutz in Politik und Gesellschaft einnehmen?
- Werden wir uns immer noch nicht als eine Menschheit fühlen?
- Werden wir immer noch die bekannten Probleme im Gesundheitssystem, Steuersystem usw. haben?
- Welche Probleme werden wir gelöst haben, welche werden zu größeren Problemen oder Katastrophen geführt haben?
- Wird es uns Menschen noch geben?
Was werden Geschichtsbücher in fünfhundert Jahren über die heutige Zeit berichten? Dass wir Wohlhabenden Smartphones benutzten und wegen unserer Gier, unseres sinnlosen Besitzes und unserer Verschwendungssucht tolle Menschen waren, oder dass trotz der ungeahnten Möglichkeiten, die wir uns erarbeitet hatten, immense Ungerechtigkeit und Ungleichheit herrschten? Wie wird man darüber urteilen, dass Ausbeutung, Armut und Milliarden Hungernde einem sich schnell entwickelnden reichen Europa, Nordamerika und Teilen Asiens gegenüberstanden?
Wenn wir das Mittelalter vor Augen haben, denken wir nicht, dass die damaligen Menschen aufgrund ihrer dogmatischen Religiosität bessere Menschen waren, sondern wundern uns über ihre Toleranz gegenüber brutalsten Foltermethoden. Es steht zu befürchten, dass unsere Schwächen später ebenso unverständlich erscheinen.
Vor fünfhundert Jahren hätte man wahrscheinlich viele Menschen gefunden, die fest davon überzeugt waren, dass einen beim Anfertigen von Bildern mit sexuellem Inhalt sofort der Teufel holt. Vor zweihundert Jahren hätte niemand geglaubt, dass heute jedermann eine Kutsche erwerben könnte, die ihn überall hinbringt – und das mit Geschwindigkeiten, die zu dieser Zeit keine technische Errungenschaft, sondern höchstens ein Raubvogel im Sturzflug erreichen konnte. Es hätte niemand geglaubt, dass wir uns fliegend mit annähernd der Geschwindigkeit von Pistolenkugeln bewegen könnten und dies eine beliebte Art des Reisens werden könnte. Vor etwas mehr als hundert Jahren, hätte niemand geglaubt, dass es für bürgerliche Menschen nicht unanständig sein könnte, wenn man sich auf der Straße küsst oder wenn ein Mann etwas anderes als einen Anzug mit Hut und eine Frau etwas anderes als ein Kopftuch und ein bodenlanges Kleid trägt. Vor fünfzig Jahren hätte sich niemand in Europa oder Nordamerika vorstellen können, dass es schwule oder schwarze Politiker in höchsten Ämtern geben könnte. Vor dreißig Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass jeder von uns seine Plattensammlung, seine Fotoalben, sein Bücherregal und all seine Karten und Stadtpläne mit sich herumtragen könnte – in einem Gerät, das so groß ist wie ein damaliger Taschenrechner – und dass man sich damit an jedem Ort der Welt mit jedem anderen verbinden könnte und dass es dazu noch als Fotoapparat, Filmkamera und Atlas dienen könnte und noch vieles mehr. Und zu derselben Zeit hätten viele Leute Schwierigkeiten gehabt, sich ein Russland ohne Kommunismus vorzustellen.
Damit ist klar, dass sich irgendwann auch die Rahmenbedingungen verändern werden, die in den westlichen Industrieländern seit Ende des Zweiten Weltkriegs unverändert geblieben sind und uns eine scheinbar ewig währende Sicherheit vorspielen. Unklar ist, wann und auf welche Art es geschehen wird. Leichter ist es, Schwächen, Denkfehler und Verbesserungspotentiale im heutigen System zu entdecken. Daraus lässt sich zumindest ableiten, was verändert werden muss.