Ich bin davon überzeugt: die Eigenschaften, die wir Menschen mitbringen, sind nicht „schlecht“, sondern erfüllen einen Zweck. Wir waren damit optimal an die steinzeitlichen Lebensbedingungen angepasst. Betrachtet man die Entwicklung des Lebens insgesamt, so kann die Evolution nicht irren, denn selbst wenn einzelne Arten aussterben müssen, läuft die Anpassung des gesamten Lebens an die Umwelt immer weiter. Für uns Menschen ist entscheidend, dass wir nicht in eine Sackgasse geraten. Wir haben gesellschaftliche Strukturen geschaffen, die Egoismus, Konkurrenz und einen Mangel an Mitgefühl fördern. Damit erhöht sich die Gefahr, dass wir uns irgendwann selbst ausrotten. Diese ignorieren wir gegenüber der vermeintlichen Bedrohung durch Krankheiten und Allergien. Seltsamerweise zweifeln wir eher an unserer Überlebensfähigkeit und benötigen im Alltag zahllose Hilfsmittel wie warmes Wasser, Medikamente oder Kosmetika. Dabei ist es unsere auf Vereinzelung und Wettbewerb basierende Massengesellschaft, die uns auseinandertreibt und unsere Existenz gefährdet.
Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch nach Verbesserung strebt und sich weiterentwickeln möchte. Natürlich gibt es Ausnahmen, vor allem infolge von Resignation oder Wut. Ich glaube aber nicht an das Böse oder eine angeborene Schlechtigkeit. Dass wir etwas für böse halten, liegt oft an unserer Unkenntnis der Ursachen. Das Streben nach Entwicklung, nach „dem Guten“ ergibt sich als Folge unseres evolutionären Überlebensdrangs.
Neben gut und böse unterscheiden wir heute gerne zwischen Fleiß und Faulheit. Nichtstun ist uns jedoch angeboren und gesund. Wer sich ausruht, wenn er satt ist, hat größere Überlebenschancen als der, der sich ununterbrochen verausgabt – selbst wenn unser heutiges Wirtschaftssystem etwas anderes fordert. Davon zu unterscheiden ist eine Antriebsschwäche, die aus seelischen Verletzungen in der Vergangenheit resultiert. Die betreffenden Menschen verdienen es nicht, dafür verurteilt zu werden; sie haben innere Blockaden entwickelt, und sie brauchen Unterstützung, um diese zu überwinden.
Im Berufsleben haben wir zwei Wege entwickelt, mit den Defiziten eines Menschen umzugehen: Man kann dem Betreffenden kündigen oder man versucht, ihm durch Weiterbildung zu Kompetenzen zu verhelfen oder eine Aufgabe für ihn zu finden, die er besser ausfüllt. Jemanden auszuschließen, lässt immer Potentiale ungenutzt. Wenn jemand etwas nicht kann, benötigt er Hilfe. Die Idee der Bestrafung und die ihr zugrundeliegende Einteilung in Gute und Schlechte sind meiner Ansicht nach Relikte aus vergangenen Zeiten. Für das einundzwanzigste Jahrhundert erscheint mir diese Vorgehensweise brutal und verschwenderisch in Bezug auf Chancen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft.
Jemand, der in einem bestimmten Bereich weniger ausgeprägte Fähigkeiten hat als andere, wird von uns als schlechter oder schwächer bewertet. Wir tun oft so, als sei es ein Irrtum der Natur, dass sie uns mit unterschiedlichen Stärken geschaffen hat. Wir erwarten, dass auch der eine können soll, was einem anderen gelingt. Doch wenn die Natur identische Menschen gewünscht hätte, wären wir nach sieben Millionen Jahren Evolution einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Es gäbe keine Olympiasieger, weil alle zur gleichen Leistung fähig wären. Aber das ist nicht das Konzept menschlicher Entwicklung. Dass wir in bestimmten Dingen schlechter als andere sind, macht uns in anderen Dingen besser als sie. Es behindert unsere Entwicklung erheblich, dass sich die meisten Menschen immer noch mit anderen vergleichen. Hilfreicher ist es, dass jeder sich möglichst selbst erkennt und das Beste aus seinen Fähigkeiten macht.
Unsere Gesellschaft sollte nicht länger ächten, sondern erlauben, was der persönlichen Entfaltung dient. Freiheit sollte Vorrang vor Fremdbestimmung haben. Die einzige Grenze der Freiheit wird erreicht, wenn andere Menschen, Pflanzen, Tiere oder spätere Generationen beeinträchtigt werden. Wenn wir uns gesellschaftlich weiterentwickeln wollen, brauchen wir dafür mehr Freiheit. Andererseits benötigt eine Zunahme der Freiheit mehr Toleranz, um die Vielfalt der anderen auszuhalten zu können. Das braucht Zeit.